Die Zwanzigerjahre dieses Jahrhunderts werden das Jahrzehnt des Marketings und des Bullshits. Schon jetzt wird nur noch wahrgenommen, wer sich selbst öffentlich anpreist. Noch ist es die Domäne von Firmen und Werbeagenturen, aber insbesondere in den sogenannten sozialen Medien bewerben sich immer mehr Individuen wie Produkte. Aufmerksamkeit, Klicks und die anonyme digitale Liebe der Masse werden zur neuen Währung. Alle ergießen sich in Stärken- und Schwächen-Analysen, ihre Stärken etwas arg überbetonend und das Ergebnis garniert mit einem übergroßen Schuss Schwurbel auf die Welt und ihre Mitmenschen loslassend. Die Suche nach der besten Selbstvermarktungsfloskel mit möglichst viel Impact bei notwendigem und nahezu völligen Verlust von Inhalt ist der neue Volkssport. Persönlichkeit und Wahrhaftigkeit sind verwegene Tugenden einer vergangenen Zeit. Die neue Gratwanderung ist noch mehr die Eigenwerbung zwischen pseudospritziger Individualität und Maximierung der eigenen Massenkompatibilität. Berufe, Urlaube, Partner, Häuser, Autos, Körper und Kinder werden nach Instagrammability gewählt, geshaped und gezeugt. Alle düsen mit Vollgas durch die innere Leere ihrer perfekt polierten Hüllen. Da digitale Aufmerksamkeit keinen realen Gegenwert in der Welt hat und weder den Kühlschrank füllt noch die Miete bezahlt, wird diese Blase irgendwann platzen, und das ganz neoliberal direkt beim Einzelnen und nicht bei den Firmen. Diese werden sich an den notwendigen oder als notwendig vermarkteten Produkten von Selfie-Kameras über Apps bis hin zu virtuellen Produkten wie bezahlten Werbe-Einblendungen eine zumindest silberne Nase verdient haben. Psychische Störungen werden spätestens dann in den Statistiken den Herz-Kreislauf-Erkrankungen in puncto Kosten für Gesellschaft und Wirtschaft den Rang ablaufen.
Eigentlich ist Philips und Sony ein Wunder gelungen. Sie haben einen Datenträger entwickelt, den die Künstler angenommen haben. Ein bisschen Glück war auch dabei, und so kam eine nahezu kompromisslose Tonqualität dabei heraus. Von einer seltsamen Plastikverpackung, die man euphemistisch Jewel Case genannt hatte, gingen die Künstler über zu schön bedruckten Pappverpackungen, mit viel Liebe gestaltet. Kleine und große Komplettkunstwerke; hält man heute eine CD in der Hand, dann hat man in keinster Weise das Gefühl, einfach nur ein paar hundert Millionen Bits in der Hand zu haben, mitnichten ist es ein reiner Tank voller Zahlen. Schublade auf, einlegen, schon das ist ein kleines Ritual. Dann beginnt die Reise durch die Töne. Manchen ist das nicht genug. Manche brauchen die Langspielplatte, die Schallplattenbürste gegen den Staub, aber bitte nicht gegen allen Staub, ein paar Knackser dürfen es eigentlich schon sein. Die klingen besser, sagen sie. Aber eigentlich geht es um das Ritual, um das Wertschätzen von Musik, um das Anfassen und sich berühren lassen. Die anderen gehen zu Spotify, dem Online-Armutszeugnis für künstlerische Leistungen. Das gelungene Wunder hat ausgedient, die Körperlosigkeit des Netzes hält den Konsumenten gefangen und die Künstler müssen auf die Bühne flüchten, um einen Rest von Mammon zu erhaschen.
Es löst sich irgendwie auf, das Alle. Alle lieben Verbotene Liebe oder Marienhof, das war einmal. Ich netflixe meine Serie, du deine. Meine Filterblase zeigt mir meine Welt, nicht deine. Ich benutze das Wort Filterblase routiniert. Ich bin ein Außenseiter, ich habe kein Smartphone. Du bist ein Außenseiter, du hast ein Smartphone aber Threema ist bei dir kein Thema, nicht so wie bei deinen Freunden, WhatsApp ist dir zu doof, aber Telegram hat halt keiner. Und kuck; da auf Facebook, da sind die Onanisten mit ihrem geilen Leben wieder am abschütteln, während ich im Novemberregen sitze, als hätten die anderen ein anderes Wetter. Alles ist nur einen Klick entfernt, die Wahrheit wie die Lüge und der Bullshit, und jede Minute gibt es 400 Stunden neues Videomaterial auf YouTube und ich habe schon lange keinen Überblick mehr; was soll ich kucken, wie soll ich leben? Ich will es wieder geordnet, aber ich bin zu schlau, um an Chemtrails zu glauben, und zu menschlich, um rechtsradikal zu werden. Früher, da war alles sortierter. Der Sohn wurde, wie und was der Vater war. Die Technik war noch warm und analog, nicht kalt und digital. Es war immer Sommer und nie Novemberregen. Deswegen kaufe ich jetzt Röhrentechnik für meine Instrumente, und die Instrumente sind aus den Siebzigern. Ich aktiviere den Schwarzweiß-Filter in meiner Kompaktkamera und google Paleo Diät. Ich hänge die Bilder ab und male mit Blut ein paar Mammuts auf meine Rauhfasertapete. Und morgens gehe ich mit meinem Speer mit Steinspitze hinaus in den Großstadtdschungel und töte ein Tier. Wenn erst alle das machen, dann ist meine Welt wieder in Ordnung. Wann fängst du auch endlich damit an?
Der erste Frost. Das Wort „Raureif“. Äpfel werden unterdessen reif, sie werden weich und süß. Menschen werden wohl eher rau, wenn sie reif werden. So viel ersten Frost schon gesehen, so viel alter Rost, so viel Kommen und Gehen. Irgendwann werden Äpfel runzelig und Menschen schrullig. Dann stellt man sie sich an Öfen sitzend vor, wie alte Katzen. Doch tief drinnen sind sie noch immer die alten, also die jungen, solange sie lieben dürfen. Denn wer liebt, bleibt frostsicher.
Die orangefarbene Tür der Umkleide öffnet sich ruckartig. Heraus tritt er; der Mann. Er blickt sich kurz um, findet nicht. Steckt die Finger in den Mund und pfeift. „Hee!“, brüllt er. Hinter einem Regal taucht auf: Sie, die Frau. Offenbar seine Frau, so heiß geliebt wie sein deutscher Schäferhund, dessen Existenz ich hier postuliere. Wenn man pfeift, kommt Hasso angelaufen, winselt, wedelt mit dem Schwanz, und hofft, nicht geschlagen zu werden für seine Treue. So ein Hund kann doch nur Hasso heißen und so eine Frau, keine Ahnung, vielleicht Hannelore, aber das wäre unfair allen Hassos und Hanneloren dieser Welt gegenüber. Ich schätze ihn auf Mitte Fünfzig. Nicht den Hund, den Mann. Die Frau sagt ihm pflichtbewusst und mittelstinkig gelaunt irgendetwas zu der kurzen Hose, die unter seiner Wampe klemmt. Er schimpft vor sich hin, oder vielmehr: Er schimpft sie aus, aber eigentlich vor sich hin. Oder zumindest fällt es mir schwer, einen Unterschied auszumachen. Als ich mit einer anvisierten Badeshorts selbst in die Umkleide gehe, steht dort sein Mundgeruch wie ein durchsichtiger Betonklotz in der Luft, als wäre ein stummer stinkender Zeuge einer inneren Fäulnis zurückgeblieben. Leise bete ich, dass ich ihn verlassen hätte, wäre ich an ihrer Stelle. Aber hätte ich wirklich? So viel Kraft kostet manchmal doch die nötigste Veränderung.
Die sehr rundliche Frau auf der anderen Seite lächelt sehr viel. Das Cortison-Nasenspray hat sie direkt neben der Kasse ihrer Apotheke, das geht hier weg wie frische Semmeln, wenn man den Halsnasenohrenarzt im selben Haus hat. Das gibt’s jetzt als Generikum, meine Krankenkasse freut sich, ich zahle halt wie immer drauf. Mir liegt ein viertels Halbkalauer zum Thema Nase wegätzen auf der Zunge, irgendwas mit Kokain oder so. Der schale Witz bleibt mir im rauen Hals stecken. Ich ordere außerdem noch diesen Schleimlöser, bei dem man aus dem Hals stinkt, wie ein Koala aus dem Arsch. Die 50er-Packung. Und dann noch Ibuprofen, sage ich. Ob ich eine große Packung wolle, fragt sie und lächelt wieder sehr. „Ja“, sage ich, und schiebe nach: „Ich muss ja nicht alle auf einmal nehmen.“ Da lächelt sie nicht mehr. War vielleicht doch kein so guter Scherz. Aber was will ich auch machen mit meinem Schmerz, mit solchen Nebenhöllen fallen einem keine gesünderen Witze für sehr rundliche Frauen ein. Humor ist was für Leute, denen nichts anderes übrig bleibt, habe ich mal bei einem Poetry Slam gehört. Fand ich nicht lustig. Die anderen schon. Humorloses Pack, ich beneide euch.
Sie macht mir Bubble Tea, selber. Dieses seltsame Getränk aus grünem Tee und Tapioka-Perlen, die wir liebevoll nur ‚Fischeier‘ nennen; gekochte Stärkebobbel. Sirup gibt den geschmacklosen Dingern ein Aroma. Es ist durchaus lecker, aber man könnte auch ohne leben. Ich denke zurück, als in Berlin die ersten Läden eröffneten, die Bubble Tea verkauften. Kleine Startup-Blasen, die emporsteigen wollten zum Imperium, so wie das eben immer ist. Du musst nur daran glauben, so bloggen sie dann im Bubble Blog dazu. Echte Werte schaffen und das tun, was du liebst, dann kommt er Erfolg ganz von allein und dein Business wird laufen. Ein Hoch außerdem auf die Selbständigkeit, auch wenn sie aus den Worten selbst und ständig zusammengesetzt ist. Tag und Nacht für den Bubble Tea, olé! Schlüsselqualifikation Wahnvorstellung, wann wird das in den Wirtschaftswissenschaften an der Uni denn nun endlich gelehrt? Sich begeistern können für offenkundige Schnapsideen, das scheint mir heute elementar. Und ohne stolpern weitergehen, wenn man damit auf die Nase fällt, was mit hoher Wahrscheinlichkeit passieren wird. Denn eines Tages kommt die Schnapsidee, an der sich alle besaufen wollen, und dann schwimmst du im Geld. Als damals dann MacDonalds ebenfalls Bubble Tea im Angebot hatte, da wusste ich, dass die Blase geplatzt war. Heute hört man nichts mehr vom Bubble Tea – ausgeblubbert hat es sich, kein Mensch mehr redet davon. Nun sitze ich hier, habe mein Gewerbe angemeldet, und denke darüber nach, was ich kann, und was davon jemand dauerhaft kaufen wollen würde. Das Leben in Blasen ist leider nichts für mich.
Du bist vegan und sagst manchmal Dinge, die mein Herz wie Butter schmelzen lassen. Das ist dann schön, und ich bin gerührt wie ein Kuchen. Du hast außerdem zwei sehr schöne Brüste, aber ohne Eier hält das alles nicht zusammen. Bei vegan denken immer alle ans Essen, aber du bist ja vegan, du isst nicht nur vegan, also das auch, aber so insgesamt; es ist ein großes Ganzes. Du brauchst das Vegansein für deinen inneren Krieg, für deine Regeln, für deine Gewalt gegenüber dir selbst und anderen. Klar, die armen Schweine, und die Rinder, auch kaum besser. Weiß ich. Aber wenn deine vegane Faust in meinem fleischigen Gesicht auftrifft, dann denke ich: Die armen Menschen. So stehst du vor mir, in wohlgeformter Weiblichkeit und in Kunstlederstiefeln und auf der Suche und ich möchte schreien, möchte deine ganze Wut und deinen ganzen Schmerz hinausbrüllen, es tut mir weh, wenn du so mit dir umgehst, da wird mein Herz zu Stein. Und steinerne Herzen fressen leichten Gemütes ein Huhn oder ein Schwein. Oder auch mal ein Krokodil. Gewehre und Metzgermesser sind die Reißzähne des Homo Sapiens. Nimm bitte dein Gebiss aus meinem Hals, Kannibalismus ist keine Lösung.
Vor dem ersten Kaffee kommt es mir schon reichlich belämmert vor, auf eine beleuchtete Fläche zu starren, auf der viele Bilder und Texte sind. Manche Bilder sind klein und haben Text mit dabei. Ich schiebe sie hin und her. Vielmehr: Ich bewege ein Stück Plastik mit einem Kabel daran. Dabei klickere ich auf Knöpfe, die in dem Stück Plastik eingebaut sind. Manchmal hacke ich auch auf vielen vielen anderen Knöpfen herum, die in einer anderen Einheit mit Kabel dran vor mir liegen. Und wenn mich ein kleines Kind fragt, was ich da mache, dann sage ich womöglich: „Arbeiten“. Dann kommen bestimmt ganz viele Warums. Weil Kinder klar sehen und noch nicht vom Weltwissen verblendet sind.